Ferienuni – Organizing the Crisis
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Kooperativen: Transformatorische Praxen oder verloren in Alltagsroutinen?
Referentin: Nora Räthzel, Umeå Universität, Schweden

Kooperativen sind nicht neu. Die erste wurde 1844 von 28 Webern und qualifizierten Arbeitern gegründet, die ihre Qualifikationen und ihre Arbeitsweise gegen die neuen Prozesse der industriellen, marktorientierten Arbeit verteidigen wollten, gegen niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und die Abwesenheit von Entscheidungsmöglichkeiten. Im Nachhinein gesehen kann man sagen, dass die Gründung der Kooperative ein Versuch war, traditionelle Arbeitsstrukturen zu erhalten. Trotz ihrer Prinzipien: Gleichheit, Demokratie, Unabhängigkeit, Ausbildung, Sorge für die Gemeinschaft, sahen sich die Kooperativen im allgemeinen nicht als transformatorische Kraft, die die kapitalistischen Verhältnisse insgesamt ändern wollten, sondern als eine Alternative, die nebenher existierte.
Dies hat sich zum Teil verändert durch die aus Südamerika kommende Bewegung der ‘economia social y solidaria’ (soziale und solidarische Ökonomie). Unter ihren zentralen Prinzipien findet sich hier auch die Ökologie. Sie haben sich zudem die Transformation der gesamten Ökonomie zum Ziel gesetzt. Ihr Motto: eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie existiert bereits. Diese Bewegung engagiert sich nicht nur in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld, sondern hat den Anspruch, global zu handeln: „Unsere Verantwortung für das Lokale führt uns dazu, in größeren Zusammenhängen zu denken, um globale Lösungen zu finden. Wir müssen uns ständig zwischen Mikro und Makro, zwischen dem Lokalen und dem Globalen hin und her bewegen.“1
Die Frage ist, ob und inwieweit Kooperativen, die solidarische Ökonomie, eine Alternative zur kapitalistischen Produktionsweise entwickeln kann. Können sie die kapitalistische Ökonomie unterminieren oder bleiben sie ein Nischenphänomen? Können sie dazu beitragen, die imperialistischen globalen Lieferketten zu transformieren und gleichberechtigte Beziehungen zwischen Arbeitenden im globalen Süden und Norden herzustellen?
Wir haben versucht, diese Fragen durch die Analyse vom Alltagsleben der Arbeitenden in Kooperativen zu beantworten – oder uns zumindest einer Antwort zu nähern. Wir orientieren uns dabei an Lefebvre für den der Alltag der Raum ist, in dem ‘wirkliche Veränderungen’ stattfinden: ‘Even, and above all, when exceptional activities have created them, they have to turn back towards everyday life to verify and confirm the validity of that creation.’ (Lefebvre 2002: 45) Was geschieht also, wenn die außergewöhnliche Handlung, eine Kooperative zu gründen, zur Normalität des Alltagshandelns in einer Kooperative wird? Was geschieht, wenn die großen Ideale und Prinzipien sich in der alltäglichen Routine und in den alltäglichen Problemen bewähren müssen?
Im Alltag wird die Bedeutung der Persönlichkeiten zentral. Welche Fähigkeiten haben die einzelnen, sich in horizontalen, gleichberechtigten Strukturen zu bewegen und zu entwickeln, Strukturen, die im Alltag außerhalb der Kooperative nicht oder nur am Rande existieren? Inwieweit sind die im kapitalistischen Alltag entwickelten Persönlichkeitsstrukturen eine Schranke für die Entwicklung gleichberechtigter Arbeitsbeziehung in einer Kooperative und inwieweit verändern sich Formen der Handlungsfähigkeit in diesen Arbeitsbeziehungen?

In einem dreijährigen Forschungsprojekt habe ich mit teilnehmender Beobachtung und lebensgeschichtlichen Interviews sieben Kooperativen in Spanien und dem Vereinigten Königreich untersucht. Auf Basis dieser Materialien möchte ich folgende Themen diskutieren:
• Ohne Furcht Arbeiten: individuelle Fehler und kollektive Verantwortung
• Demokratie: „das Beste sind flache Hierarchien, das Schlimmste sind flache Hierarchien“.
• Gleichheit: wie verhalten sich ‚gleicher Lohn für alle‘ zu den unterschiedlichen notwendigen Bedürfnissen der Individuen?
• Zwischen Ökonomie und Ökologie: wie lässt sich eine Allianz zwischen Arbeit und Natur im Kontext einer dominierenden kapitalistischen Ökonomie realisieren?

Das Globale und das Lokale: wie schafft man faire und solidarische Beziehungen entlang der Lieferkette?

https://www.economiasolidaria.org/carta-de-principios-de-la-economia-solidaria/



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Nora Räthzel,
Professor Emerita an der University of UmeŒ, Schweden, Soziologisches Institut. Ihre Forschungsfelder sind: Natur und Arbeit, Gewerkschaftliche Umweltpolitik, Transnationale Unternehmen im Kontext von Geschlechterverhältnissen und ethnischen Verhältnissen im Alltag.
Veröffentlichungen u.a.: Räthzel, Stevis, Dimitris, Uzzell, David: The Palgrave Handbook of Environmental Labour Studies, Räthzel, N.; Uzzell, D. The future of work defines the future of humanity and all living species. International Journal of Labour Research, Geneva: International Labour Office 2019, Vol. 9, (1-2): 145-171. Räthzel, N. Diana Mulinari und Aina Tollefsen: Transnational Corporations from the Standpoint of Workers. Palgrave 2014. N. Räthzel, David Uzzell, (eds.). Trade unions in the Green Economy. Working for the Environment. Routledge/Earthscan 2013.